Stressbewältigung beginnt im Kopf – und manchmal mit einem Spaziergang

Stress ist individuell, situativ – und nicht immer negativ. Wer versteht, wie Stress entsteht und wie er sich regulieren lässt, kann ihn nicht nur bewältigen, sondern sogar für sich nutzen.
„Schreibst du uns einen Text über Stressbewältigung?“ fragte die Kollegin aus der Unternehmenskommunikation. „Klar, kann ich machen“, antwortete ich – in meinem jugendlichen Leichtsinn. Kurz darauf folgte eine Mail mit detaillierten Infos zu Umfang, Inhalt, Zeitplan und hilfreichen Schlagwörtern. Auf einmal wurde mir bewusst, auf was ich mich da eingelassen hatte. So schnell ich die Mail geöffnet hatte, schloss ich sie auch wieder und ignorierte sie daraufhin wochenlang. Klassische Stressbewältigung durch Vermeidung. Spoiler: langfristig keine empfehlenswerte Strategie.
Was ist Stress eigentlich?
Das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkman zeigt, wie individuell Stress erlebt wird. Ihre These: Stress entsteht nicht allein durch äußere Reize, sondern durch unsere Bewertung: Ist die Situation bedrohlich, herausfordernd oder irrelevant? Habe ich die Ressourcen, um damit umzugehen? Erst danach folgt die Stressreaktion – das sogenannte Coping.
Biologisch betrachtet greifen wir auf evolutionäre Muster zurück: Fight, Flight oder Freeze. Meine Reaktion auf die Anfrage war wohl eine Mischung aus Freeze („erstmal nichts tun“) und Flight („erstmal Urlaub“). Der Abstand half, den Stressor neu zu bewerten: Ist er wirklich bedrohlich? Kann ich ihn nicht aktiv angehen – insbesondere gut erholt?
Dasselbe Ereignis kann also je nach Kontext ganz unterschiedlich wirken. Und manchmal braucht es keinen Urlaub, sondern nur ein paar Minuten frische Luft oder eine Atemübung, um den Fokus zu verschieben. Mir hilft dabei oft die Frage: „Ist das in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr noch relevant?“ – eine einfache Methode, um die Dinge wieder in die richtige Perspektive zu rücken.
Weil Stress so individuell und situativ ist, wünsche ich mir im Umgang miteinander mehr Verständnis. Wenn uns Gedanken kommen wie „Warum stresst ihn das so?“ oder „Muss sie sich so anstellen?“, könnten wir uns selbst antworten: „Vielleicht ist das für diese Person in dieser Situation gerade die passende Reaktion.“
Ist Stress negativ?
Schon der Mediziner, Biochemiker und Hormonforscher Hans Selye, der als Begründer der modernen Stressforschung gilt, unterschied in den 1970ern zwischen Eustress (positiv, aktivierend) und Distress (negativ, belastend). Ob man das so zweigeteilt betrachten sollte, sei mal dahingestellt. Aber sicher ist, dass Stress auch gute Seiten haben kann: Er kann uns antreiben, fokussieren und leistungsfähig machen. Ohne Deadline wäre dieser Text vermutlich nie entstanden.
Der Schlüssel liegt in der Balance. Nach der Stressreaktion, die unsere Kräfte mobilisiert, braucht unser Körper Erholung, um Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol abzubauen. Unser Arbeitsalltag – häufig geprägt von sitzender Tätigkeit und Bildschirmarbeit – ist dafür leider wenig geeignet. Was hilft, sind Pausen und körperliche Aktivität. Ohne sie steigt der Spiegel der Stresshormone dauerhaft, was langfristig Körper und Psyche belastet.
Was hilft gegen Stress?
Die Möglichkeiten zur Stressbewältigung sind vielfältig. Hier eine Auswahl an Strategien, die einen echten Unterschied machen können.
- Achtsamkeitsübungen: z.B. Box-Atmung: wie in einem Quadrat wiederholt sich immer wieder eine Abfolge von vier gleich langen Atemphasen (z.B. vier Sekunden):
Einatmen, Atem halten, Ausatmen, Atem halten - Bewegung: Ideal zum Abbau von Stresshormonen und zur Ausschüttung von Endorphinen. Es muss kein Marathon sein. Regelmäßiger moderater Sport wirkt Wunder!
- Soziale Unterstützung: Gespräche helfen dabei, Situationen zu verarbeiten. Das entlastet emotional und bringt uns auf neue Ideen.
- Positive Psychologie: Sich stärken durch gute Gedanken; Beispiel-Übung: Überlege jeden Abend, für welche drei Dinge du heute dankbar bist und eine Sache, auf die du stolz bist.
- Selbstfürsorge ernst nehmen: Ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung und mentale Hygiene sind kein Luxus, sondern Voraussetzung für Belastbarkeit.
- Stresstagebuch führen: Stresssituationen werden zeitnah und strukturiert aufgeschrieben. So können in der Rückschau Muster in Gedanken und Reaktionen entdeckt werden, die eine langfristige Veränderung ermöglichen.

Kurbelt Stresshormone runter und die Ausschüttung von Endorphinen an: Regelmäßige Bewegung und moderater Sport wirken Wunder gegen Stress. - © ShutterStock (LovetheLifeyouLive)
Was ist Resilienz?
Stress gehört zum Leben. Deshalb wird so viel über Resilienz gesprochen – unsere generelle Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress und Krisen. Der Begriff stammt aus der Materialkunde: Etwas verformt sich unter Druck, kehrt aber in seine ursprüngliche Form zurück. Es zerbricht nicht.
Wie kann ich Resilienz aufbauen?
Die gute Nachricht: Resilienz ist trainierbar. Laut dem amerikanischen Psychologen Al Siebert, der als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Resilienzforschung gilt, lässt sich Resilienz schrittweise entwickeln – von grundlegenden Fertigkeiten bis hin zur Fähigkeit, gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Dazu hat er ein 5-Stufen-Modell entwickelt, in dem die Grundstufen (1 und 2) Basisfähigkeiten und -verhaltensweisen beschreiben und die Aufbaustufen (3 bis 5) fortgeschrittenere Fähigkeiten und Einstellungen umfassen.
- Gesundheit und Wohlbefinden fördern
- Reduziere bestehende Belastungen.
- Stärke belebende Aktivitäten.
- Stärke dein soziales Netzwerk.
- Problembewältigung erlernen
- Löse Probleme analytisch und kreativ.
- Akzeptiere, was du nicht verändern kannst.
- Sich auf Krisen vorbereiten: „Innere Torhüter“ stärken
- Stärke dein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl.
- Entwickle ein positives Selbstkonzept.
- Finde Klarheit, was dir im Leben wichtig ist.
- Synergien schaffen
- Zeige Lernbereitschaft und -fähigkeit.
- Geh neugierig an Situationen ran.
- Bau dir ein breites Verhaltensrepertoire auf und experimentiere.
- „Serendipity“: der glückliche Zufall
- Begreife Krisen als Lernchancen.
- Wende Rückschläge zum Guten, indem du dich weiterentwickelst.
Man muss nicht alle Stufen auf einmal erklimmen. Schon kleine Schritte helfen: Achtsamkeit, Selbstfürsorge, lösungsorientiertes Denken, soziale Unterstützung und die Bereitschaft, aus Erfahrungen zu lernen.
Wer das Gefühl hat, dass es zum Vorbeugen zu spät ist, dem möchte ich Mut machen: Es ist nie zu spät für den ersten Schritt – und sich Hilfe zu holen, ist ein Zeichen von Stärke.
Und all jene, die sagen: „Mich stresst so schnell nichts“, dürfen sich freuen – und gleichzeitig gesunde Routinen pflegen. Denn in guten Zeiten fällt es leichter, vorzubauen und Resilienz zu stärken.
Nehmen Sie sich selbst wichtig. Kümmern Sie sich gut um sich. Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen und achtsamen World Mental Health Day.

