Expertise kennt kein

Sie sind erfahren, krisenerprobt, verfügen über großes Fachwissen – und verabschieden sich Schritt für Schritt in den Ruhestand. Lesen Sie, warum Unternehmen im Kampf gegen den Fachkräftemangel nicht auf die Generation der Babyboomer verzichten können und was es braucht, die Seniorfachkräfte auch über das offizielle Renteneintrittsalter hinaus zu binden.
Fachkräftemangel – die wissenschaftliche Grundlage
Noch nie gab es in Deutschland so viele erwerbstätige Menschen wie heute. Laut Statistischem Bundesamt waren im Februar 2025 45,6 Millionen Menschen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Das IAB rechnet jedoch damit, dass diese Zahl durch den demografischen Wandel stark sinken wird. Man geht davon aus, dass das Erwerbspersonal – ohne Zuwanderung – bis 2035 um 7,2 Mio. Arbeitskräfte abnehmen wird. Bis 2060 sind es sogar insgesamt 16 Mio. Arbeitskräfte weniger. Gleichzeitig zeigt das ifo-Fachkräftebarometer der KfW, dass der Fachkräftemangel historisch hoch bleibt.
Allerhöchste Zeit also, entgegenzusteuern. Es sind grundlegende Veränderungen notwendig, um dem Fachkräftemangel die Stirn zu bieten. Diese müssen auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene geschehen. Erste gute Schritte in diese Richtung ist die Politik bereits gegangen. Zunächst mit dem Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen bei Altersrenten seit Januar 2023 und nun mit der im Koalitionsvertrag festgehaltenen Einführung der sogenannten Aktivrente. Erwerbstätige, die über die Regelaltersgrenze hinaus freiwillig weiterarbeiten wollen, sollen künftig 2.000 Euro pro Monat steuerfrei dazuverdienen dürfen.
Aber auch Unternehmen können und müssen ihren Teil dazu beitragen, die Fachkräftelücke zu schließen, die die Babyboomer hinterlassen. Nicht zuletzt, weil zu erwarten sei, dass die Konjunktur auch in Deutschland wieder anziehe und Fachkräfte dann umso dringender benötigt würden, wie Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts für deutsche Wirtschaft, im Interview betont.
Generation Babyboomer
Zu dieser Generation zählen Menschen, die in den geburtenstarken Jahrgängen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges (oder anderen Kriegen) in den vom Krieg betroffenen Staaten geboren wurden. In den USA setzte der Babyboom direkt nach dem zweiten Weltkrieg ein und dauerte von 1946 bis 1964. In Deutschland stiegen die Geburtenraten durch die Nachwirkungen des verlorenen Krieges erst in den 1950er Jahren. Das Statistische Bundesamt definiert die Babyboomer in Deutschland als die Jahrgänge, die zwischen 1955 und 1969 geboren wurden.
Drei Lösungsansätze für die wachsende Fachkräftelücke
Gegen den Fachkräftemangel gibt es drei wesentliche Hebel:
- Die gezielte Migration von Fachkräften
Hierfür sind weitreichende Veränderungen auf politischer Ebene (z. B. Abbau von administrativen Hürden, Anerkennung ausländischer Qualifikationen) sowie auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene (zu echter Integration und Teilhabe) notwendig. - Raus aus der Teilzeit!
Die Teilzeitquote von abhängig beschäftigten Frauen und Männern ist laut einer Erhebung des WSI von 1991 bis 2023 von 14 auf 30 Prozent gestiegen. Auch diese Maßnahme erfordert tiefgreifende politische, kulturelle und unternehmerische Neuerungen. Es muss deutlich mehr Angebote für Kinderbetreuung und ambulante Pflege sowie flexiblere Arbeitszeitmodelle geben und steuerliche Anreize wie das Ehegattensplitting müssen verändert werden. Beide Hebel sind zwingend notwendig, sind aber so langfristig ausgelegt, dass sie das akute Problem bis 2035 nicht lösen werden. - Die verlängerte Erwerbstätigkeit von älteren Menschen
Wer könnte die Lücke, die die Babyboomer reißen, besser schließen als diese selbst? Im Gegensatz zu den beiden anderen Maßnahmen sind hierfür kaum politische Veränderungen notwendig. Hürden für ältere Menschen am Arbeitsmarkt existieren hauptsächlich auf kultureller bzw. gesellschaftlicher Ebene, zum Beispiel durch Vorurteile und daraus resultierender Benachteiligung. Unternehmen, die diesen Hebel erkennen und ihre Kultur und Personalpolitik entsprechend anpassen, können sich einen Vorteil im War for Talents verschaffen und Know-how langfristig im Unternehmen halten.
Was macht die Babyboomer-Generation aus?
Die deutschen Babyboomer sind im geteilten Deutschland aufgewachsen, was ihre Erfahrungen maßgeblich geprägt hat: Im damaligen Westdeutschland wuchsen Kinder zum Beispiel mit traditionellem Familienbild auf, in der damaligen DDR mit hoher Erwerbsbeteiligung von Frauen und staatlich geförderter Familienpolitik. „Beide Gruppen erlebten jedoch einen Wandel in den familiären und gesellschaftlichen Strukturen, der sie prägte“, so das Statistische Bundesamt. Ihre Lebenserfahrungen sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung, von der Trennung und Wiedervereinigung Deutschlands, dem Erstarken von Individualisierung und Emanzipation – insbesondere von Frauen. Aber auch von der starken Konkurrenz am Arbeitsmarkt und hohen Arbeitslosenquoten, einem Wertewandel hin zur Selbstverwirklichung und steigender Lebenserwartung.
Wer neue Ideen will, muss mehr Leute an den Tisch holen
Fakt ist: Vielfalt ist ein Innovationsmotor. Ein Projektteam, das viele verschiedene Hintergründe und Sichtweisen mitbringt, wird vielleicht länger diskutieren, um auf einen Konsens zu kommen. Doch die Lösungen, die es entwickelt, werden nachhaltiger sein, weil es die Problemstellung aus wesentlich mehr Blickwinkeln beleuchtet hat. Es lohnt sich für Unternehmen also langfristig, viele verschiedene Perspektiven an einen Tisch zu holen. Dabei sollten sie die Babyboomer nicht vergessen, die in der Regel nicht nur Kenntnisse über betriebliche Abläufe und Kundenerwartungen mitbringen, sondern auch Fachwissen zu älteren Programmiersprachen oder Technologien. Das macht sie zu prädestinierten Trouble Shootern und zu wertvollen Know-how-Trägerinnen. Sie alle in den Ruhestand zu verabschieden, wäre für viele Unternehmen mit einem massiven Brain Drain verbunden.
Um den Hebel der verlängerten Erwerbstätigkeit richtig ansetzen und das Potenzial von Seniorexpertinnen und -experten voll nutzen zu können, müssen aus meiner Sicht zwei Dinge passieren: Zum einen sollten Unternehmen ihre Personalpolitik verändern und Maßnahmen umsetzen, die wirklich zu den Bedürfnissen ihrer älteren Mitarbeitenden passen. Dazu gehören finanzielle Anreize, flexiblere Arbeitszeitmodelle, der Ausbau des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, die Schaffung von altersgerechten Arbeitsplätzen, Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten auch in höherem Alter, die Intensivierung von Weiterbildung sowie die Unterstützung beim Wiedereinstieg und bei steuerrechtlichen Fragen (zum Beispiel, wenn jemand über das Rentenalter hinaus arbeiten möchte). Ich möchte ehrlich sein: Auch bei Hays müssen wir hier noch besser werden. Unternehmensinitiativen wie unser Diversity Council und die Fokusgruppe 55+ helfen, die richtigen Maßnahmen auf den Weg zu bringen.
Damit allein ist es aber nicht getan, und das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Für Unternehmen, die eine echte Veränderung anstreben, reicht es nicht aus, kluge (Personal-)Politik zu betreiben und entsprechende Maßnahmen daraus abzuleiten. Das ist allenfalls die Pflicht. Wer die Kür bestehen will, muss auch die Unternehmenskultur verändern.
Kulturelle Veränderungen sind anstrengend – aber sie lohnen sich
Kulturelle Veränderungen brauchen Zeit. Zeit, die wir eigentlich nicht haben, denn der Fachkräftemangel bremst die deutsche Wirtschaft bereits heute maßgeblich aus. Aus meiner Sicht gibt es drei Dinge, die Unternehmen jetzt tun sollten:
Unconscious Biases entgegenwirken
Niemand ist vor unbewussten Vorurteilen gefeit. Auch ich nicht. Umso wichtiger ist es, dass wir uns diese bewusst machen und aktiv versuchen, sie abzubauen. Im Diversity-Training von Hays, das einmal pro Jahr Pflicht für alle Mitarbeitenden ist, arbeiten wir genau daran. Wichtig ist, dass alle – vom Vorstand bis zur Neueinsteigerin – mitmachen. Denn Uncoscious Biases machen auch vor der Chefetage nicht Halt.
Generationenübergreifenden Austausch fördern
Bei Hays arbeiten heute Menschen aus vier Generationen. Statt uns darauf zu konzentrieren, was die vermeintlich „anderen“ nicht gut machen, versuchen wir, unsere jeweiligen Stärken besser zu nutzen. Auch hier sind wir noch nicht am Ziel, Veränderungen in den Köpfen brauchen Zeit – aber sie lohnen sich. Wenn die jahrelange Erfahrung und das Wissen von älteren Mitarbeitenden mit den Kompetenzen der Digital Natives kombiniert werden, entsteht echte Innovationskraft. Reverse-Mentoring-Programme, die gezielt Mitarbeitende mit größeren Altersunterschieden zusammenbringen, können helfen. Wichtig ist, dass beide Seiten voneinander lernen (wollen).
Ein Growth Mindset fördern
Growth Mindset steht für die Überzeugung, dass wir unsere Fähigkeiten durch Anstrengung, Lernen und Ausdauer ein Leben lang weiterentwickeln können. Das gilt für das gesamte Unternehmen genauso wie für einzelne Mitarbeitende – egal welchen Alters. Unternehmen (und hier nehme ich Hays nicht aus) müssen eine Kultur schaffen, in der es okay ist, Fehler zu machen und aus diesen zu lernen, und zwar von- und miteinander. Nur so entsteht langfristiger und nachhaltiger Erfolg.
Fazit
Unternehmen haben es also ein Stück weit selbst in der Hand, ihre Fachkräftebasis zu sichern. Dazu müssen Personalpolitik und Unternehmenskultur ineinandergreifen, um den großen Erfahrungs- und Know-how-Schatz der älteren Mitarbeitenden zu sichern. Natürlich gibt es nicht die eine Kultur, die für alle passt. Umso mehr kommt es darauf an, eine Kultur zu entwickeln, in der sich zumindest alle verstanden fühlen und andocken können. Eine Kultur, die sensibel gegenüber Mythen und Stereotypen ist und sich stattdessen auf die Potenziale der Mitarbeitenden konzentriert. Nur so können die Babyboomer möglichst lange – nach Möglichkeit sogar über das offizielle Rentenalter hinaus – ans Unternehmen gebunden werden.
Quellen:
Statistisches Bundesamt:
Erwerbstätigkeit im Februar 2025 leicht gesunken - Statistisches Bundesamt
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung:
Nur mit einer jährlichen Nettozuwanderung von 400.000 Personen bleibt das Arbeitskräfteangebot langfristig konstant - IAB - Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
KfW-Ifo-Fachkräftebarometer:
KfW-ifo-Fachkräftebarometer Dezember 2024
Bundesministerium für Arbeit und Soziales:
Szenarien über die Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials - BMAS
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut:
Teilzeitquoten der abhängig Beschäftigten 1991–2023 - Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut
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