„Traut euch!“

Trotz guter Aussichten auf dem Arbeitsmarkt entscheiden sich junge Frauen in Deutschland nach wie vor seltener für ein MINT-Studium oder einen Tech-Beruf als junge Männer. Warum das so ist und was sich gegen dieses Ungleichgewicht tun lässt, erklärt Dr. Julia Freudenberg, Leiterin der gemeinnützigen Hacker School, im Interview.
Frau Dr. Freudenberg, nach langjähriger Tätigkeit in der Wirtschaft wechselten Sie 2017 in die Geschäftsführung der gemeinnützigen Hacker School. Ihre Vision: Jugendliche, insbesondere Mädchen und sozioökonomisch benachteiligte junge Menschen, für das Programmieren zu begeistern. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Es ist so begeisternd zu sehen, wie die Augen der Kinder anfangen zu leuchten, wenn sie die eigenen Fähigkeiten entdecken. Für mich gibt es nichts Schöneres und Wichtigeres, als jungen Menschen zu zeigen, dass sie ganz aktiv die Zukunft gestalten können - und dazu gehört ein grundsätzliches Verständnis von Daten und Algorithmen einfach dazu. Wir begeistern sehr niedrigschwellig und ermuntern, sich mehr mit dem Themenfeld an sich zu beschäftigen. Wir haben das Ziel, jungen Menschen Fähigkeiten und Berufsfelder näherzubringen, mit denen sie den Standort Deutschland umfassend nach vorne bringen können. Zu entdecken, dass Lernen Freude macht oder zumindest machen kann, ist ein großer Treiber für mich – denn lebenslanges Lernen geht uns alle an und betrifft uns zukünftig immer mehr.
Laut Statistischem Bundesamt waren in Deutschland 2022 rund 35 Prozent der MINT-Studienanfängerinnen und -anfänger im 1. Fachsemester Frauen – ein historischer Höchststand. Wie erklären Sie sich diese positive Entwicklung?
Die steigende Zahl von Frauen in MINT-Studiengängen ist auf jeden Fall ein erfreuliches Zeichen für einen gesellschaftlichen Wandel. Der Wert von MINT-Kompetenzen wird in unserer zunehmend digitalisierten Welt offensichtlich auch von jungen Frauen immer deutlicher erkannt. MINT-Berufe sind attraktiv und zukunftsorientiert. Es gibt auch immer mehr erfolgreiche Frauen in diesen Bereichen, die als Vorbilder dienen und junge Frauen ermutigen, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen.
Auch die Studienbedingungen haben sich verbessert. Viele Hochschulen bieten gezielte Förderprogramme und Netzwerke für Frauen in MINT-Fächern an. Darüber hinaus hat sich natürlich das gesellschaftliche Verständnis von Geschlechterrollen verändert. Frauen werden heute weniger in bestimmte Richtungen gedrängt. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es noch immer Unterschiede zwischen den einzelnen MINT-Fächern gibt. In einigen Bereichen wie zum Beispiel der Fahrzeug- oder Klimatechnik ist der Frauenanteil weiterhin gering. Um den positiven Trend zu verstetigen, sind weitere Maßnahmen erforderlich. Dazu gehören beispielsweise die Förderung von MINT-Interesse schon in der Schule, die Schaffung von Netzwerken für Frauen in MINT-Berufen, flexible Arbeitsmodelle - und natürlich die Hacker School.
Mut und Innovationsbereitschaft sind entscheidend, um die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt erfolgreich zu meistern. © Hacker School
Trotz der guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt entscheiden sich Frauen in Deutschland aber nach wie vor seltener für ein Studium in einem MINT-Fach oder einen Tech-Beruf. Woran liegt das?
Tja. Man kommt ins Grübeln, oder? Selbst bei attraktiven Jobaussichten in den MINT-Bereichen entscheiden sich viele junge Frauen leider nach wie vor seltener als junge Männer für ein Studium oder eine Karriere in diesen Fachrichtungen. Lange Zeit wurden MINT-Berufe als typisch männlich betrachtet. Das wirkt noch nach. Sätze wie „Für ein Mädchen ist eine Vier in Mathe doch ganz ok.” sind immer noch nicht verbannt. Umso wichtiger ist es, dass in der Schule die Mädchen genauso für Naturwissenschaften begeistert werden wie die Jungen. Es ist wichtig, bereits in jungen Jahren Vorurteile abzubauen und Mädchen für MINT-Themen zu begeistern. Lehrerinnen und Lehrer sollten geschult werden, um alle gleichermaßen zu fördern. Zudem müssen weibliche Vorbilder in den MINT-Bereichen sichtbarer gemacht werden.
Sind die geschlechtstypischen Unterschiede in den Interessen auf die unterschiedliche Sozialisation von Mädchen und Jungen zurückzuführen?
Das spielt sicher noch oft eine Rolle. Spielzeug, Kleidung, Bücher – vieles ist noch mit unterschiedlichen Rollenbildern verknüpft. Soziale Lernprozesse spielen natürlich eine zentrale Rolle. Kinder beobachten, imitieren und übernehmen Verhaltensweisen, die in ihrem sozialen Umfeld als typisch für ihr Geschlecht angesehen werden. Medien, Werbung und auch das Bildungssystem tragen dazu bei, diese Stereotype zu verfestigen. Durch gezielte Maßnahmen kann die geschlechtsspezifische Sozialisation verändert und damit auch die Interessen von Mädchen und Jungen beeinflusst werden. Es ist aber wichtig, hier ein differenziertes Bild zu zeichnen und sowohl biologische als auch soziale Faktoren zu berücksichtigen.
Brauchen Mädchen andere Zugänge zur MINT-Bildung als Jungs und wenn ja, welche?
Das wird in der Bildungsforschung kontrovers diskutiert. Während es unbestritten ist, dass Mädchen und Jungen oft unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen und Erfahrungen ausgesetzt sind, bedeutet dies nicht automatisch, dass sie grundlegend andere Lernbedürfnisse haben. Vielmehr sind es oft die äußeren Umstände und die Gestaltung des Unterrichts, die zu Unterschieden führen. Mädchen benötigen oft positive weibliche Vorbilder, um zu sehen, dass auch Frauen in diesen Bereichen erfolgreich sein können. Ein geschlechterbewusster Unterricht, der die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven von Mädchen und Jungen berücksichtigt, kann ebenfalls hilfreich sein.
Darüber hinaus ist es wichtig, das Selbstvertrauen von Mädchen zu stärken und ihnen zu zeigen, dass sie in der Lage sind, MINT-Fächer zu meistern. Besonders für die Mädchen ist die Teilnahme an einem Hacker-School-Kurs oft ein echtes Schlüsselerlebnis. Am Anfang hören wir noch öfter: „Ach, das ist langweilig, das interessiert mich nicht, das kann ich eh nicht.“ Und am Ende stellen die Mädchen fest: Das macht ja richtig Spaß, ich würde gerne noch weitermachen. Und: Das ist ja gar nicht so schwer. Wenn wir dieses Feuer der Leidenschaft für die IT-Welt deutschlandweit bei vielen Schülerinnen und Schülern entfachen und die Hemmschwellen abbauen können, dann sind wir schon einen guten Schritt weiter.
Vor welchen Barrieren stehen Frauen, wenn sie in MINT-Berufe streben?
Es sind alte gesellschaftliche Stereotype, die MINT-Berufe traditionell als Männerdomäne betrachten, und wir haben nach wie vor noch deutlich mehr Männer in den Berufen. Das führt häufig zu strukturellen Barrieren, die es Frauen in den Berufen nicht einfach machen. Umso wichtiger ist es, allen angehenden weiblichen Fachkräften den Rücken zu stärken und Mut zu machen, sich auf das Abenteuer einzulassen, wenn sich die Chance bietet. Wir brauchen mehr Frauen in der IT-Welt und dafür müssen wir die Mädchen begeistern und ihnen zeigen, was für eine kreative, bunte Berufswelt mit großartigen Möglichkeiten dort auf sie wartet. Wenn wir in Zukunft gendergerechte Algorithmen wollen, dann müssen wir etwas dafür tun. Die programmieren sich nicht von alleine. Darüber hinaus möchten wir auch einfach die Hemmschwellen abbauen. Programmieren ist keine Raketentechnik und man ist nie zu alt, es zu lernen.
Unternehmen suchen händeringend Tech-Talente. Was können sie tun, um mehr Frauen für die Tech-Branche zu begeistern?
Mit uns zusammen Hacker School @yourschool machen. Durch frühzeitige Berührungspunkte mit den Tech-Themen können Mädchen ihre eigenen Fähigkeiten entdecken und erkennen, dass es hier berufliche Möglichkeiten für sie gibt. In den Schulklassen sitzen rund 50 Prozent Mädchen – eine gute Quote. Darüber hinaus: Eine offene und inklusive Unternehmenskultur, in der Vielfalt geschätzt wird, ist attraktiv für Frauen. Unternehmen sollten darauf achten, dass Frauen in Führungspositionen vertreten sind und dass es keine gläsernen Decken gibt. Flexible Arbeitszeitmodelle, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, sind ebenfalls wichtig, um Frauen für die Tech-Branche zu gewinnen. Letztlich müssen Unternehmen eine langfristige und strategische Perspektive einnehmen. Es geht darum, sich mit um die digitale Bildung aller Jugendlichen zu kümmern und im Unternehmen ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich Frauen wohlfühlen.
Was ist Ihr persönlicher Appell an alle Frauen und Mädchen da draußen?
Traut Euch! Bitte! Was soll denn schon groß passieren? Wenn wir die Welt für unsere Töchter gestalten wollen, dann müssen wir in die Bütt. Mir sagte einmal eine wunderbare Frau: Wenn du mit den großen Jungs Tennis spielen willst, musst du halt auf den Platz! Es gibt großartige Lernangebote und Ansätze, sich im Daten- und IT-Umfeld etwas auszusuchen – macht einfach! Und bedenkt, dass wir uns den aktuellen Lernsituationen selbst stellen sollten, wenn wir es von unseren Kindern erwarten. Mein Appell: Springt – ihr werdet überrascht sein, wie cool Fliegen ist.
Dr. Julia Freudenberg
Dr. Julia Freudenberg ist seit 2017 die CEO der Hacker School GmbH in Hamburg. Nach Berufstätigkeit in der freien Wirtschaft, Studium und Promotion übernahm sie die Leitung der gemeinnützigen Organisation, deren Vision es ist, die Jugend für das Programmieren zu begeistern, die 21st Century Skills zu vermitteln sowie Möglichkeiten der IT-Berufswelt aufzuzeigen. Der Fokus der Hacker School liegt auf Kursangeboten an Schulen und damit auch dem Empowern von Mädchen und sozio-ökonomisch benachteiligten Jugendlichen. Erfolgskonzept für die Durchführung sind nachhaltige Kooperationen mit Unternehmen und Hochschulen.
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